Zwei Bilder mit Ausschnitten der Bahnvorderseite mit Fahrerassistenzsystemen

Das Fahrerassistenzsystem – Mehr Sicherheit im Straßenverkehr

Eine Einparkhilfe kann ein Segen sein. Nur die wenigsten können sich inzwischen ein Autofahrerleben ohne ABS (Antiblockiersystem), EPS (Elektronisches Stabilitätsprogramm), Spurhalteassistent oder Tempomat vorstellen. Fahrerassistenzsysteme sind aus keinem PKW mehr wegzudenken. Und vielleicht bald auch nicht mehr aus Straßenbahnen. Schon heute hört man diesen seltsamen Ton, wenn man in der Nähe der Fahrerkabine sitzt – und nein, es ist nicht das Signal, dass alle Türen geschlossen sind.

 

Ein Unfall und seine Folgen

Rückblende: 8. März 2013. Bei einem Unfall an der Uniklinik fährt eine Straßenbahn auf eine andere auf, die kurz nach dem Anfahren an der Haltestelle nochmals bremsen muss. Zum Glück gibt es keine schwerverletzten Fahrgäste, aber die beiden Fahrzeuge werden schwer beschädigt.

Mit Fahrerassistenzsystem an Bord wäre es wahrscheinlich nicht zu solch einem Unfall gekommen.

Dieser Vorfall machte deutlich: Es ist höchste Zeit für uns, einmal mehr technisches Neuland zu begehen.

 

Eine Idee ist geboren

Kluge Köpfe bei den beiden Verkehrsunternehmen VGF und üstra (Hannover), beim Fahrzeughersteller Bombardier Transportation und bei Bosch machten sich Gedanken, was man denn tun könne. Schon bald war die Idee eines „elektronischen Schutzengels“ für Bahnen geboren.

Bisher sind solche „Helferlein“ aus dem Automobilbereich bekannt. Seit Herbst 2015 sind Notbremssysteme für neue Nutzkraftfahrzeuge über 3,5 t Pflicht. Ohne diesen Assistenten darf kein LKW mehr auf Deutschlands Straßen fahren. Ziel ist, den Straßenverkehr für alle sicherer zu machen.

Was auf der Straße funktioniert, muss doch auch auf der Schiene möglich sein, oder?! Ja, ist es. Vor vier Jahren begann ein Projekt, das im ÖPNV seinesgleichen sucht: Um ihre Verkehrssicherheit zu erhöhen, ist es naheliegend, auch unsere Straßenbahnen mit ähnlichen Assistenzsystemen auszustatten. Damit wir in näherer Zukunft oben genannten Unfällen quasi „aus dem Wege gehen“ können.

Es musste ein System entworfen werden, das den Fahrweg vor der Bahn auf Hindernisse absucht und deren Lage sowie Bewegungsrichtung relativ zum Fahrzeug bestimmt. Mit Hilfe dieser Daten kann dann die Gefahr eines Zusammenstoßes berechnet und ein solcher notfalls verhindert werden.

Schon während der Projektphase zeigte sich: Die Ansprüche an unser Fahrerassistenzsystem sind enorm. Zum einen muss es leicht in unsere Fahrzeuge der Frankfurter Typen „R“ und „S“ integrierbar sein und möglichst aus Standard-Komponenten bestehen. Zum anderen soll die Erweiterung um zusätzliche Funktionen möglich sein. Das Ergebnis ist ein innovatives Fahrerassistenzsystem zur Kollisionsvermeidung von Straßenbahnen.

 

So funktioniert‘s

Die Funktionsweise unseres Fahrerassistenzsystems – eigentlich sind es sogar zwei, die bei uns zum Einsatz kommen – ist ebenso „einfach“ (zumindest scheint es Laien so) wie genial:

Das System von Bombardier Transportation (entwickelt in Co-Operation mit der Forschungseinrichtung AIT Austrian Institute of Technology), eingebaut in die „S“-Wagen, basiert auf dem Prinzip: „Zweifach sieht besser!“ Hierbei werden zwei Bilder der gleichen Szene, die von leicht versetzten Standpunkten aus mit Kameras aufgenommen wurden, miteinander verglichen. Man kann sich die Kameras als „Augen“ der Straßenbahn vorstellen, deren Bilder im Gehirn, einem Hochleistungsrechner, zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Die gewonnenen Werte ermöglichen die Ermittlung des Abstands jedes Punktes der Szene zur Kamera.

Gleich drei Kameralinsen „scannen“ den Fahrweg vor der Straßenbahn ab.

Aus den ermittelten Tiefendaten können Objekte abgeleitet und deren Bewegung mit Hilfe des Kamerasystems verfolgt werden. Sind die Fahrzeug- sowie die Objektgeschwindigkeiten hinreichend genau bekannt, wird deren Relativgeschwindigkeit zueinander bestimmt. Anhand dieser Größe lässt sich anschließend bestimmen, ob sich Straßenbahn und Objekt – sei es ein PKW, eine vorausfahrende Bahn oder ein Mensch – einander annähern und damit die potentielle Gefahr eines Zusammenstoßes besteht.

Bosch hingegen setzt auf ein Kollisionswarnsystem mit Radar- und Videosensor, eingebaut in einigen „R“-Wagen. Die Kamera erfasst den Schienenverlauf; das Radar registriert andere Bahnen auf der Strecke und auch die Positionen und Geschwindigkeiten von PKWs, LKWs und Bussen in der Umgebung. Neben beweglichen Hindernissen erkennt das Radarsystem auch feststehende Objekte, zum Beispiel Prellböcke. Eine leistungsfähige Software wertet die Sensorinformationen zusammen mit weiteren Daten, wie der Geschwindigkeit der Bahn, aus.

Die Kombination aus Radar (links) und Videokamera (rechts) soll Unfälle vermeiden helfen.

So unterschiedlich sie auch sein mögen, haben beide Systeme doch eines gemeinsam: Sie warnen Fahrer bzw. Fahrerin bei einem drohenden Zusammenstoß durch einen akustischen Warnton. Der Fahrer hat dann zwei Sekunden Zeit, den Warnton zu quittieren – also die Warnung zu bestätigen –, die Strecke zu überschauen und ggf. zu bremsen. Wird der Warnton nicht quittiert, wird eine Zwangsbremsung eingeleitet, damit die Bahn vor dem Hindernis zu stehen kommt und die Kollision so vermieden wird.

Mehr zu den technischen Hintergründen unseres Fahrerassistenzsystems lesen Sie in der Zeitschrift ÖPNV, BAHNEN – Magazin für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz (Ausgabe 04/19).

 

Warum eigentlich das Ganze?

Wer kennt das nicht? Man quält sich frühmorgens aus dem Bett und arbeitet den ganzen Tag konzentriert an seinem Arbeitsplatz. Der gemeine Büromensch kann sich zum Beispiel einen Kaffee machen, sollte um die Mittagszeit ein Tief folgen. Schienenbahnfahrer und -fahrerinnen haben es nicht ganz so leicht. Schnell mal in den Coffee-Shop zu huschen, ist im Fahrplan nicht vorgesehen. Im Laufe des Tages verlangsamt sich die Reaktionszeit, Ablenkungen verhindern mitunter schnelle und angemessene Handlungen.

Dabei müssen die VGF-ler viel im Blick haben. Denn die Straßenbahnen teilen sich in Frankfurt oft den Fahrweg mit den Autos. Oder der Individualverkehr kreuzt die Schienen und erzeugt dabei Gefahrensituationen. In diesen Fällen reagiert das Fahrerassistenzsystem und unterstützt den Fahrer mit einer entsprechenden Warnung.

 

Erste Flotte in Deutschland

Nach Abschluss der Entwicklungsarbeiten des Systems und einer Erprobungsphase im laufenden Schienenverkehr werden derzeit alle unsere 74 „S“-Wagen mit dem neuen Fahrerassistenzsystem ausgerüstet. Die Frankfurter Flotte wird damit die weltweit erste sein, die vollständig mit dieser neuen Sicherheitstechnik ausgestattet ist. Ein Novum im Bereich des schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehrs.

Aber bitte machen Sie jetzt nicht die Probe aufs Exempel. Auch wenn technische Innovationen wie ein Fahrerassistenzsystem den Betrieb von Straßenbahnen sicherer machen: Bei roter Ampel über die Gleise zu laufen oder eine Bahn zu ignorieren, wird auch in Zukunft lebensgefährlich sein.

Sascha Reimann
s.reimann@vgf-ffm.de
2 KOMMENTARE
  • Torsten Borowski
    Gepostet am 10:26h, 26 August Antworten

    Sehr geehrte Damen und Herren, ich suche den Kontakt zu einer Ansprechperson. Gerne würde ich eine Einladung aussprechen, das Projekt Fahrerassistenzsysteme an Straßenbahnen auf unserer Veranstaltung (Konferenz) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zu Assistenzsystemen darzustellen. Vielen Dank Torsten Borowski (DGUV) Veranstaltungsseite:
    https://www.dguv.de/ifa/veranstaltungen/dguv-fg-assistenzsysteme/index.jsp

    • Sascha Reimann, VGF
      Gepostet am 11:06h, 13 September Antworten

      Sehr geehrter Herr Borowski, bitte wenden Sie sich mit Ihrem Anliegen an unsere Kolleg:innen unter presse@vgf-ffm.de – vielen Dank!

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